Selbstliebe und das Gefühl von Selbstwert. Gedanken zum Thema. (TEIL 1)
Mangelnde Selbstliebe – Ein Frauenproblem?
Das undeutliche Gefühl, nicht gut genug zu sein oder noch nicht gut genug. Der überkritische Blick auf sich selbst. Kennst Du das? Den Eindruck, nicht dazu zu gehören, nicht so wertvoll zu sein wie andere, der Dinge nicht würdig?
“Ich habe das gar nicht verdient“ sagen nicht selten gerade erfolgreiche Menschen. Sie kennen dieses Gefühl von Minderwertigkeit, gerade weil oder trotzdem sie in der Bewertung anderer doch ganz offensichtlich schon so viel geschafft haben.
Erfolgreich sind die, die es „geschafft haben“. Aber was heißt das eigentlich? Und für wen?
Nehmen wir einen, der – Anfang 30 – die nächste Karriere-Chance nach langem Abwägen ablehnt, und stattdessen sich am Start-Tag der neuen Abteilung in den monatelangen Erziehungsurlaub verabschiedet. „Absolut falsche Entscheidung!“ sagen die einen. Als „Lebensklug und souverän“ bewerten es die anderen.
Unabhängig von den Meinungen anderer: Sollte nicht wenigstens die eigene Bewertung unseres Handelns und Seins, unserer Bedürfnisse grundsätzlich großzügig und liebevoll ausfallen? Z.B.:
„Meine Entscheidung war in dem Moment die richtige.“
Aus meiner Erfahrung als Coach kann ich sagen, dass mangelnde Selbstliebe und Selbstwert nicht selten die Gefühlswelt besonders von selbstreflektierten Menschen zu bewegen scheinen. Gleich welchen Geschlechts.
Gleichzeitig kann dieses abstrakte Minus-Gefühl „nicht zu reichen“ starker Antreiber sein und Grund für außergewöhnliche Performance und selbstlosen Einsatz ohne Grenzen: Für die Arbeit, die Kinder, die alten Eltern, das Ehrenamt u.v.m.
Es gilt in allen Fällen, für die andere Seite alles zu geben: Energie, Ideen, Wissen, Zuwendung, Zeit. Alles! Und für sich selbst? Es scheint mir viele beruflich erfolgreiche Menschen, tragen das Mantra aktiv vor sich her, keine Zeit zu haben. Und zwar reflexartig in dem Moment, in dem es um die eigenen persönlichen Bedürfnisse geht.
Zeit für mich? Keine Zeit.
Auffallend bei den Suchergebnissen bei der Recherche zum Thema Selbstliebe: Die Mehrzahl der Artikel (on- und offline) sind meist von Frauen für Frauen geschrieben. Frauen also, die anscheinend die Selbstliebe gefunden haben und dieses Wissen nun teilen möchten. „Selbstliebe lernen: 6 Tipps für den Alltag“ oder so ähnlich lauten viele Überschriften.
Und wenn die Artikel nicht explizit für Frauen geschrieben sind, dann suggerieren zumindest die verwendeten Bilder, dass Frauen gemeint sind – glücklich, strahlend, sich umarmend.
Kein 10-Punkte-Plan für mehr Selbstwert
Dass es bei Selbstliebe und dem Gefühl von Selbstwert nicht mehr länger darum geht, sich ausreichend Zeit für Yoga, Schaumbäder oder ein Glas Wein mit der Freundin zu nehmen, ist wohl den meisten bekannt (auch wenn das immer noch sehr oft unter den Top 10-Tipps für mehr Selbstliebe und Selbstverwirklichung genannt wird).
Denn selbst wenn alle Frauen anfangen würden, Yoga zu praktizieren, Wein zu trinken und Schaumbäder zu nehmen, um das Gefühl zu haben, etwas für ihre Bedürfnisse und ihre Selbstliebe zu tun – stärkt das denn das Gefühl, „es wert zu sein“? Führt das zu mehr Selbstliebe? Komme ich mir dann näher?
Nicht jede Frau mag Wein oder Yoga. Das ist auch gut so. Manche tun es aber trotzdem: Sie tun das, was gut für sie sein SOLL:
„Ich MUSS jetzt etwas für mich tun“ sagte einmal eine Freundin von mir. Sie buchte sich – fast trotzig – ein teures und langes Wellnesshotel-Wochenende. Dort erkannte sie, dass zwar andere sie zu ihrer Aktion beglückwünschten, sie selbst sich und die Umgebung aber gar nicht recht geniessen konnte. Im Liegestuhl auf einen Pool zu gucken war einfach nicht ihre Sache. Darüber hinaus übte sie sich in weiterer Selbstkritik, das ganze Geld ausgegeben und ihre Zeit nicht „anständig genutzt“ zu haben. (Sie hatte nicht sämtliche Wellness-Angebote wahrgenommen.) Sie konnte die Zeit mit sich allein nicht gut aushalten. Es war ihr einfach nicht genug, nur mit sich zu sein. Es war ihr die Zeit nicht wert, Zeit zu haben und zu sein.
Ist es die Zeit nicht wert, einfach nur Zeit zu haben?
Bei erfolgreichen Männern erfahre ich in meiner Arbeit häufig den übertrieben selbstkritischen Vergleich mit anderen. Diese Art des aktiven „Verzwergens“ erscheint mir hart und ungerecht. Wie eine Selbststrafe wirkt es, den eigenen Erfolg, den Ruhm, den Lohn „nicht verdient zu haben“. Nicht wenige fühlen sich gar in manchen Momenten als Hochstapler. Es ist, als ob sie sich ungläubig von außen betrachteten. Und dieses ist nicht nur ein männliches Phänomen. *
*(Impostor-Phenomenom nennt die Psychologie dieses Gefühl. Zu deutsch: Hochstapler-Syndrom.
Psychologische Studien aus den 1980er Jahren schätzen, dass zwei von fünf erfolgreichen Menschen sich selbst als Hochstapler einstufen.
Das Hochstapler-Syndrom wurde ursprünglich als ein Phänomen unter erfolgreichen Frauen angesehen. Eine Reihe von Studien belegt jedoch, dass Männer und Frauen in etwa gleicher Zahl betroffen sind. Erfreulicherweise gilt es weder als psychische Störung noch wird es als eigentlicher Persönlichkeitszug angesehen.) (Quelle Wikipedia))
Meiner Meinung nach jedoch verlieren Menschen durch übertriebenen Aktionismus und Vergleiche mit anderen noch mehr den liebevollen Kontakt zu sich selbst; die Fähigkeit, sich zu mögen, sich selbst genug zu sein, sich grundsätzlich richtig und gut und auch richtig gut zu finden.
Warum nicht sehr gut befreundet sein mit sich selbst? D.h. sich mit sich selbst genug und lebendig zu fühlen. Sich zu lieben, den eigenen inneren Kern grundsätzlich positiv und bedingungslos anzunehmen.
Vielleicht schüttelst Du bei diesen Worten ungläubig den Kopf. Oder sagst Du: „Ja, das tue ich“?
Der grundsätzlich liebevolle Kontakt zu dem unperfekten Selbst: positiv und bedingungslos
Auch dann, wenn Du vielleicht letzte Woche etwas nicht hinbekommen hast, jemand anderen aus Versehen vor den Kopf gestoßen, eine Deadline übersehen oder den nächsten Karrieresprung nicht geschafft hast. Haderst und zweifelst Du endlos mit Dir und Deiner Entscheidung oder sagst du „Abhaken und weiter“? Und raten wir nicht genau das unseren liebsten Freund*innen, die sich genau mit diesen überkritischen Gedanken martern?
Warum gehen wir mit Freunden eigentlich oft viel großzügiger um als mit uns selbst? (Dazu gibt es mehr in Teil 2 zum Thema Selbstliebe.)
Wir alle haben unsere ureigenen Bedürfnisse. Wir sollten erforschen, welche es sind. Es sind die, die nur aus uns heraus entstehen und entdeckt werden können. Nicht aus gut gemeinten Ratschlägen. Und nicht aus einer Frauenzeitschrift.
Eine grundsätzliche, regelmässige, verlässliche Aufmerksamkeit auf momentane Gefühle und Körperempfindungen, ein In-sich-schauen in Momenten der Unruhe und Unzufriedenheit, könnte ein Weg sein. Und noch mal: Ja, Veränderungen brauchen Zeit. Viel Zeit. Über eine lange Zeit…
Mögliche Auswirkungen von „richtig sein und passen wollen“ und dem Gefühl, noch nicht genug dazu zu gehören, beschreibt auch ein sehr guter Artikel von Nico Rose. Roses Meinung nach haben sich viele Männer in Manager-Positionen eine gewisse Persönlichkeit ‚antrainiert‘.
So beschreibt er in seinem Artikel:
„Für einen Thomas-Manager ist es vollkommen ok, akzeptiert bzw. erwünscht, wenn er:
- in die Oper geht;
- Golf spielt, aber zusätzlich Marathon betreibt;
- sich mit moderner Kunst auskennt;
- höchst eloquent über den Tannin-Gehalt von französischem Rotwein schwadronieren kann;
- und im Sommer in den Alpen wandern geht (das Handy bleibt dann auch aus – versprochen).“
Vielleicht ist das etwas überspitzt, aber es zeigt trotzdem den Kern des Problems: Sich selbst in einer Art Reportage zu erleben, sich eine neue Authentizität anzutrainieren oder mit viel Energie nur bestimmte Seiten von sich selbst zu zeigen. Eine Rolle zu spielen im negativen Sinne, führt auf lange Sicht zu dem Gefühl, sich selber von außen zu beobachten.
„Es ist die Erkenntnis um die eigene innere Leere, um den Mangel eines authentischen Innenlebens (welches letztlich erst echten Kontakt mit anderen ermöglicht), welche ihn schließlich den Verstand verlieren lässt.“, sagt Nico Rose.
Nur wenige haben dann noch den Mut zu innerer Diversität. Warum? Weil die Suche nach seinen wahren, inneren Bedürfnissen keine einfache ist.
Mut zur inneren Diversität
Aber darum geht es bei Selbstliebe und dem Gefühl von Selbstwert – nicht etwa seine eigens gebastelte Reportage fortzuschreiben („ich war schon immer so“), sondern seinen individuellen, eigenen Kern neu zu entdecken. Der ist mit 20 Jahren anders als mit 30. Mit 40 Jahren anders als mit 50 Jahren, usw. Die wahren Bedürfnisse überhaupt erst wieder zu fühlen und zu spüren, bedeutet das Befassen mit sich selbst. Als lebenslanger Prozess. Und die Entscheidung, sich Zeit genau dafür zu nehmen. Grundsätzlich. Als Haltung zur begrenzten Lebenszeit. Antworten auf die Fragen zu finden: Was treibt mich im Innern wirklich an? Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Welches Leben möchte ICH führen?
Zugegeben, für die Antworten auf diese Fragen bedarf es weit mehr Arbeit und Zeit als ein wasserdichter 10-Punkte-Plan uns glauben machen will. Wäre ja auch irgendwie merkwürdig, wenn sich doch alles einfach mit Yoga, Schaumbädern und einer Runde Golf lösen lassen würde, oder?
Sich selbst nicht zu lieben ist kein weibliches Dilemma, sondern ein menschliches. Was meinst du dazu?
Mein Impuls für Dich: Die eigenen Gedanken aufzuschreiben, ist eine weitere Möglichkeit, sich liebevoll näher zu kommen.
Nimm Kontakt mit mir auf, wenn Du das Thema im professionellen Coaching gemeinsam mit mir anschauen möchtest.
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